Von Bernhard Schneider, Affolter Anzeiger
Mitte November 1918 führte die Verarmung vieler Schweizer Familien während des Ersten Weltkriegs zum viertägigen Generalstreik. Gewerkschaftsbundpräsident Paul Rechsteiner befasste sich am 4. Oktober 2018 in seinem Referat in Hedingen auf Einladung der SP des Bezirks Affoltern mit Ursachen und Folgen des «wohl wichtigsten Ereignisses der Schweizer Geschichte des 20. Jahrhunderts».
Wenn er bei Referaten das Publikum nach der Bedeutung des Generalstreiks von 1918 frage, seien vor allem Junge erstaunt über die Dimension dieses wohl wichtigsten Ereignisses der Schweizer Geschichte des 20. Jahrhunderts, begann Rechsteiner seine Ausführungen. «Der Generalstreik wurde lange verdrängt, nicht nur in bürgerlichen Kreisen, sondern auch in Teilen der linken.» Erst seit 1968, vor allem seit den 80er-Jahren, werde der Generalstreik historisch differenziert gewürdigt. Rechsteiner ist seit 20 Jahren Präsident des Gewerkschaftsbundes und gehört dem Ständerat an.
Verelendung der Bevölkerung
Paul Rechsteiner startete mit einer Beschreibung der gesellschaftlichen Situation vor dem Generalstreik: Die Verelendung eines grossen Teils der Bevölkerung sei heute kaum mehr vorstellbar. Obwohl die Schweiz vom Ersten Weltkrieg (1914–1918) verschont blieb, litten die Familien unter dem Aktivdienst der Männer, der damals finanziell nicht abgegolten wurde, und den tiefen Löhnen der Frauen. Viele waren auf Volksküchen angewiesen, um nicht zu verhungern. Diese Armut kontrastierte zu enormem Reichtum beispielsweise von Unternehmern der Waffen- und Maschinenindustrie. Ausgelöst wurde der viertägige Generalstreik von der Auseinandersetzung um den Milchpreis, den die meisten Arbeiterfamilien nicht mehr bezahlen konnten. Beschleunigend wirkte die Bewegung der Bankangestellten, die den Kaufmännischen Verband verliessen, um militanter als «mit freundlichen Briefen» einen Gesamtarbeitsvertrag zu fordern. «Bankangestellte mussten zwar in Anzug und Krawatte arbeiten, verdienten aber weniger als ein Facharbeiter», erläuterte Rechsteiner. Die Arbeiterunion, der damalige Gewerkschaftsbund, verfügte über das logistische Knowhow, um einen Streik geordnet abzuwickeln, und unterstützte damit die Zürcher Bankangestellten.
Umsichtige Organisation
Rechsteiner erläuterte, dass die organisierten Arbeiter und Angestellten dafür sorgten, dass nach der Ausrufung des Generalstreiks Gewaltausbrüche auf beiden Seiten vermieden wurden, unter anderem auch mit einem konsequenten Alkoholverbot. Da Teile der Polizei mit den Streikenden sympathisierten, wurde die Armee eingesetzt, unter dem Kommando von Emil Sonderegger, der sich in den 1930er-Jahren der hitlerfreundlichen Frontistenbewegung anschloss.
Ausser höheren Löhnen forderten die Streikenden unter anderem das Frauenstimmrecht, eine AHV, Proporzwahlrecht für den Nationalrat, eine Beschränkung der Wochenarbeitszeit auf maximal 48 Stunden. Bis die letzte dieser Forderungen erfüllt wurde, das Frauenstimmrecht, dauerte es allerdings noch mehr als in halbes Jahrhundert, betonte Rechsteiner. Andere Forderungen wurden früher erfüllt: Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg wurde ein Lohnersatz für Soldaten eingeführt. Auf dieser Basis wurde nach dem Krieg die AHV geschaffen. Entscheidend für die Wirkung des Generalstreiks waren die gut organisierten Eisenbahner und Drucker, die einerseits den Bahnverkehr lahmlegten, anderseits keine Zeitungen erscheinen liessen. 250 000 Menschen, schwergewichtig in den Städten, beteiligten sich aktiv am Generalstreik. In Grenchen wurden vier Arbeiter von Rekruten aus der Waadt von hinten erschossen. Dies bewog die Streikführung, den Streik nach vier Tagen abzubrechen, um weiteres Blutvergiessen zu vermeiden, zumal Divisionär Sonderegger den Truppen hatte Handgranaten verteilen lassen.
Arbeitsrechtliche Folgen
Einen historischen Exkurs widmete Rechsteiner dem Acht-Stunden-Tag, der ab 1890 weltweit am 1. Mai gefordert würde – dem einzigen globalen Feiertag, der nicht religiös begründet ist, wie der Referent bemerkte. Da damals noch an sechs Tagen pro Woche gearbeitet wurde, lautete die Forderung auf 48 Stunden pro Woche. Ferien waren 1918 für die wenigsten Arbeiter ein Thema: «Die Unternehmer waren der Ansicht, Bauarbeiter seien immer im Freien, da brauchten sie gar keine Ferien, um an die frische Luft zu kommen.» Neben der Umsetzung politischer Forderungen wirkte sich der Generalstreik langfristig auf das Arbeitsrecht aus. Namentlich mit allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträgen habe die Schweiz eine weltweite Vorbildfunktion übernommen. «Die sogenannte Selbstbestimmungsinitiative würde uns diesbezüglich weit zurückwerfen – die Sozialpartner in der Schweiz haben gelernt, dass Verbindlichkeit von Verträgen allen dient. Ein Verfassungsartikel, der erlaubt, Verträge jederzeit einseitig zu kündigen, würde dem radikal entgegenstehen», betonte Rechsteiner.
«Demokratisches Recht»
Nach 20 Jahren als Gewerkschaftsbundpräsident bilanzierte Paul Rechsteiner, Streik sei ein wichtiges demokratisches Recht: «Ein Unternehmer, der bestreikt wird, wird künftig unabhängig vom Ausgang des Arbeitskampfs alles daransetzen, um nicht mehr bestreikt zu werden.» Der Bauarbeiterstreik von 2002 beispielsweise habe Rentenalter 60 auf dem Bau durchgesetzt. Der Streik bei der Medienagentur SDA habe Massnahmen zur Abfederung der Entlassungen durchgesetzt. Das Fazit von Paul Rechsteiner: «Praktisch alle Streikbewegungen haben direkt oder indirekt zu Verbesserungen geführt.»